Eigenwille versus Harmoniebedürfnis
Wenn etwas an mich herangetragen wird, was ich tun soll oder mich auf etwas einlassen soll, was ich nicht selbst bestimmt habe und wo nichts Eigenes von mir darin vorkommt, dann fühlt sich das so an, als wenn ich ausradiert werde. Es ist wie eine Bedrohung meiner Existenz. Ich bin dann automatisch im Widerstand. In mir findet ein Kampf statt. Nach außen versuche ich, Ruhe zu vorzutäuschen, jedermanns Liebling zu bleiben, bin freundlich, nett, und agiere dann hinterlistig. Die Wut über den Gedanken, fremdbestimmt zu sein und das Eigene womöglich nicht tun zu können, unterdrücke ich, und zwar so sehr, dass ich mich von diesem Gefühl abtrenne und zu einer Art Phantom werde. Dadurch bin ich für andere nicht fassbar, auch für mich selbst nicht. Der Grund dafür ist mein Harmoniebedürfnis. Dadurch bin weder in Kontakt mit mir, noch mit den anderen. Ich bin nicht in der Lage zu schauen, ob ich das an mich Herangetragene tun kann oder es genauso möchte. Ich tue es automatisch, aber im Widerstand. Vor lauter Sucht nach falscher Harmonie, kann sich wahre Harmonie nicht einstellen. Durch die Bewusstseinsarbeit habe ich herausgefunden, dass durch den Gedanken „Ich bin weniger wert, wenn jemand anderes bestimmt, was zu tun ist“ sich mein wundervolles Sein unter einer Widerstands-Identität versteckt. Ohne diesen schmerzlichen Gedanken als Glaubenssatz zu erkennen, setzt ein automatisches Kompensations-Muster des Schmerzes ein. Durch die zwanghafte Mit- oder Selbstbestimmung erschaffe ich mir künstlich einen Wert, der immer schon gegeben ist. Erstaunlicherweise zaubert diese Selbsterkenntnis ein Lächeln auf mein Gesicht.
Beispiel für falsche Rücksichtnahme, Kontaktlosigkeit
Nach der Bekanntgabe eines gemeinsamen Termins, den eine Bekannte mit einer Freundin vereinbart hatte und an dem ich und andere teilnehmen wollten, war ich sofort sehr verärgert. Ich hatte zum Zeitpunkt des Termins bereits etwas geplant, und wurde nicht vorher gefragt, ob ich Zeit habe. Ich geriet in Aufruhr, weil das ‚Eigene‘, das „Selbstbestimmte“ nun in Gefahr war, sich nicht zu erfüllen. Das nagt an meinem Selbstwertgefühl. Mit dem Wunsch bei der Bekannten gut dazustehen (Harmoniebedürfnis, Konfliktscheu) erlaubte ich es mir nicht, mein Kommen abzusagen. In dem Glauben, Rücksicht auf sie zu nehmen, rief ich ihre Freundin an, ohne mit ihr oder den anderen Teilnehmenden in Kontakt zu gehen und bat sie, einen anderen Termin für die Zusammenkunft zu finden, worauf sie es ganz absagte. Weil ich eigenmächtig hinter dem Rücken der anderen agierte, fehlte mir die Information, dass dies der einzig mögliche Termin war. Ich erkenne, dass jede Form von falscher Rücksichtnahme aus einem unbewussten Bedürfnis heraus entsteht und stets eigennützig ist. Doch findet kein, oder kein ehrlicher Kontakt statt und strategisches, hinterlistiges Handeln tritt in den Vordergrund.
Berücksichtigung – Auflösung der Selbsterhaltungs-Fixierung durch wahren Kontakt
Im wahren Kontakt bin ich bereit, andere zu berücksichtigen, und bin offen und empfänglich dafür, etwas Neues zuzulassen. Durch das innere Wissen, dass mein Wert immer gegeben ist und ich weder etwas machen kann, um ihn herbeizuführen, noch um ihn zu verlieren, lehne ich die Möglichkeit eines Treffens nicht von vornherein ab, auch wenn ich nicht gefragt wurde. Ich entscheide mich in Abwägung und Berücksichtigung des Ganzen, wo mehr Liebe ist und prüfe so, ob ich einen Schaden davon habe, mich für das Eine oder für das Andere zu entscheiden. Das ist alles – und ich tue es dann – weil ich es auch will.
Auflösung der sozialen Fixierung durch wahren Kontakt
Durch diese Erkenntnis wird klar, dass auch das Streben nach sozialem Kontakt aufgrund des fehlenden Wertbewusstseins stattfindet und auf Anpassung ausgerichtet ist, um im Gegenzug dafür ein Gefühl von Wertschätzung, Angenommensein, Geliebtsein und Nichtalleinsein zu bekommen. Die soziale Gruppierung, wie immer sie aussieht, wird nur deshalb gebraucht, um sich abzulenken und die Einsamkeit durch mangelndes Wertbewusstsein nicht zu fühlen. Es findet kein wahrer Kontakt statt, da die Anderen für eine Aufwertung gebraucht werden. Im und durch das Bewusstsein meines immer vollkommenen Wertes erkenne ich meine gedanklichen Verstrickungen und Abhängigkeiten und sie beginnen sich zu lösen. Als selbst-bewusster Mensch bin in der Lage, eigene, von Zustimmung oder Ablehnung unabhängige Entscheidungen zu treffen, und zu ihnen zu stehen. Loyalität und Kompromisse sind Krücken fehlenden Selbstwert-Bewusstseins.
Auflösung der sexuellen Fixierung durch wahren Kontakt
Im Bewusstsein meines wahren Wertes erkenne ich, dass ich die körperliche Verschmelzung mit einem Gegenüber nicht brauche. Ich benütze den anderen nicht länger als Droge zur scheinbaren Aufwertung. Befreit von der Droge der ekstatischen Gefühle, um den Schmerz der Wertlosigkeit nicht zu fühlen, ist erstmalig eine liebevolle und absichtslose Begegnung möglich. Ich bin in wahrem Kontakt mit mir und dem Partner. Eins.
Die Integration
Im Bewusstsein meines vollkommenen Wertes, finde ich mich in allen anderen wieder. Ich bin dasselbe, dass sie sind, sie sind dasselbe, dass ich bin. Hier und jetzt bin ich im wahren Kontakt. Es ist wie eine neue Geburt und eine angenehme prickelnde Erregung, das Neue, zunächst Unbekannte wahrzunehmen, zu empfangen und hereinzulassen, ohne den Keil meiner vorschnellen Widerstands-Aktivität, die immer wieder Trennung produziert. Den Schutz-Panzer des schmerzlichen Eigensinns brauche ich nicht mehr. Ich bin vom Leben geführt. Das Leben bewegt mich. Die Angst vor Verlust hat sich gewandelt in ein stilles, freudiges Wahrnehmen dessen, was gerade geschieht. Es ist niemand mehr da, der bevorzugt etwas will, weil ich selbst all das bin, was erscheint. Die Wahrnehmung der Gleichwertigkeit vollzieht sich. Erfüllt von dem Bewusstsein, wer ich wirklich bin, gibt es kein Phantom mehr. Das bedeutet nicht, dass ich alles mitmache, wenn andere mich überzeugen oder zu etwas bewegen wollen. Ich kann es berücksichtigen und selbstbewusst und uneigennützig prüfen, ob ich einen Schaden davon habe, es zu tun. Und so kommt die richtige Entscheidung wie von selbst.
Autor: Uwe Rapp
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