Die Falle der Sehnsucht

Die Sucht nach Vereinigung

Die Vereinigung mit einem anderen Menschen ist wohl die größte Versuchung in unserem irdischen Leben. In diesem Moment der Begegnung und der Hingabe an den körperlichen Sinnes-Kontakt, an das, was da zwischen zwei Menschen entsteht, fühlt es sich so an, als wäre alles vollkommen richtig, als wären ich und das Leben in diesem Moment Eins. Als ob ich angekommen bin. Ich empfinde mich als so liebenswert, so wertvoll, vollkommen geliebt. Das ist die Interpretation, die Geschichte in meinem Kopf. Es ist der Traum von Präsenz, Hingabe und Liebe, der in diesem Moment erfüllt ist. Ich bin überglücklich.

Doch was passiert, wenn dieser Moment der totalen Stimmigkeit wieder vorüber ist? Denn er ist nur eine begrenzte Zeit da und kann nicht festgehalten werden.

Das Elend
Schon, wenn der Moment des vermeintlichen Eins-Seins endet, schmerzt es, und genau betrachtet, beginnt die Sehnsucht im gleichen Augenblick. Das Elend, das in der Verschmelzung mit dem anderen Körper betäubt war, wird jetzt besonders sichtbar. Ich sehne mich nur noch danach, die schöne, harmonische und perfekte Vereinigung wieder neu zu erleben. In dieser Sehnsucht bin ich völlig unfähig das wertzuschätzen, was mir das Leben stattdessen im nächsten Augenblick entgegenbringt. Ich bin blind und taub für das Leben jetzt.

Die Sucht fängt an, ich bin mit all meiner Aufmerksamkeit darauf fokussiert, das wieder zu erleben. Und solange das nicht ist, denke ich, ich bin wertlos und somit ist auch das Leben wertlos, wie es jetzt gerade ist, ohne die Verschmelzung mit diesem bestimmten Menschen. Ich bin einsam, auch in Gesellschaft von anderen, bin unzufrieden, traurig, ich laufe herum wie ein Häufchen Elend, suchend, bedürftig, sehnsüchtig, abhängig. Ich erinnere mich gedanklich immer wieder an diese schönen Traummomente und dabei merke ich gar nicht, wie ich stolpere und hinfalle.

Solange ich diesen ersehnten Zustand der Vereinigung nicht wieder erlebe, bin ich verloren, denke ich. Ich bin raus aus der Präsenz des Seins. Die Sehnsucht nach Vereinigung treibt mich weg von dem jetzigen Lebensmoment. Die Sehnsucht nach dem Partner/der Partnerin ist die Falle. Es ist die Sehnsucht nach Liebe, Übereinstimmung, Bestätigung, nach Harmonie und EinsSein.

Was tue ich mir damit an?
Schmerz. Ich missachte das Leben, wie es sich mir in diesem Moment präsentiert. Ich kann die Menschen um mich herum nicht wertschätzen, da ich mich nach einem bestimmten Menschen sehne. Es ist Missachtung. Freunde oder mein Kind sind gerade alle nicht so wichtig. In meinem Kopf habe ich immer wieder die Idee der Erfüllung in der Zukunft. Ich bin im Sehnen, Suchen, süchtig.
Ich bin süchtig nach dem Traum von Liebe da draußen. Ich denke, ich bin unvollkommen und wertlos. All die Zeit, die ich alleine verbringe, ohne meinen Traumpartner ist wertlos. Somit erscheint mir mein Leben auch als wertlos.

Was tue ich mir da an? Was ist das für eine Verachtung des gegenwärtigen Augenblicks von dem, was mir das Leben hier und jetzt bietet? Es ist Selbstverachtung. Ich verachte das liebende Sein, das ich bin. Ich verachte das vollkommene Leben, das ich bin, bin nicht wirklich da. Wenn ich erkenne, was ich mir selbst damit antue, kann die Entscheidung für die Liebe neu getroffen werden.

Wonach sehne ich mich denn wirklich?
Durch meine persönliche Bewusstseinsarbeit finde ich heraus, dass der andere nicht meine Liebe sein kann. Die nach außen gerichtete Sehnsucht nach dem Partner ist der Spiegel der Sehnsucht nach der Liebe in mir selbst. Das, wonach ich mich wirklich sehne, ist nicht der Mann oder die Frau. Ich sehne mich in Wirklichkeit nach der Liebe, die mir der Mann/die Frau spiegelt – nach der Liebe, die ICH BIN. Durch die Entscheidung für Hingabe an die Liebe in mir selbst erwacht die wahre Präsenz. Ich erkenne, dass der Wert meines Seins bereits jetzt und in jedem Moment da ist. Er ist vollkommen gegeben und in mir selbst erfüllt. Somit ist auch das Leben, der gegenwärtige Augenblick, wie immer dieser jetzt ist, auch ohne den Mann/die Frau neben mir, bereits vollkommen wertvoll. In diesem Augenblick erfahre ich das Geschenk des Lebens und die ganze Welt eröffnet sich mir. Diese Präsenz ist die wahre Liebe.

Selbstverachtung vs. Achtsamkeit
Ist also diese extreme Fokussierung auf einen bestimmten Menschen wirklich Liebe?
Ist das wirklich Liebe, wenn ich mich nur nach diesem besonderen Moment mit diesem einen Menschen sehne? Wenn ich dadurch gleichzeitig alles andere verachte, nicht wertschätze, nichts mehr außer meinen Traum genießen kann, wenn ich sogar mich verachte und nicht mehr liebend wahrnehmen kann, kann von Liebe nicht die Rede sein. Wo Schmerz und Sehnsucht ist, ist keine Liebe. Liebe ist das GewahrSein des Momentes, wie er sich gerade zeigt. Liebe sehnt nicht. Liebe will nichts Bestimmtes. Liebe ist vollkommene Wertschätzung des Lebens im Jetzt. Es ist die Hingabe an das Leben selbst. Es ist vollkommene Präsenz im gegenwärtigen Augenblick. Diese Achtsamkeit immer wieder neu aufzubringen, ist wohl die wahre Aufgabe in unserem Leben. Es ist Tao – der Weg wird zum Ziel.

Autoren: Elgen Merklin und Tatjana Haas

Verantwortlich für den Inhalt des Artikels sind die Autoren.