Lob, Tadel und die dritte Art

Vor Gericht
Wer von uns ist schon wirklich offen Kritik zu empfangen, ohne einen inneren Widerstand zu spüren, ohne einen (versteckten) Angriff auf die eigene Person zu wittern?

Wer kann Kritik, die der Duden übrigens synonym mit Urteil/ Beurteilung, Ablehnung benennt, frohen Mutes annehmen und sich gar noch ehrlich darüber freuen?

Im unbewussten Zustand, in dem ich mit mir, einem eigenen Ich, eingehüllt in einen personifizierten Körper identifiziert bin, prüfe ich Aussagen, die von anderen zu mir kommen auf Lob, Aufwertung oder Tadel, Abwertung. So werde ich von klein an konditioniert, mache Kunststückchen, um zu gefallen, versuche mein Bestes in der Schule zu geben, ja sogar besser zu sein als andere, gehe angepasst in der Welt umher und kann selbst, endlich angekommen zuhause, nicht entspannen, denn da gibt es ja vielleicht noch eine*n Partner*in oder Mitbewohner*in, die* bzw. der* mich prüfenden Blicken unterziehen könnte und mich auf etwas hinweist, das ich nicht hören will, weil ich es insgeheim als Ablehnung meiner Person werte. Täglich scheine ich vor Gericht zu stehen!

Verurteilt
Der Zweifel ist im erlernten Gedankenpendeln zwischen den beiden entgegengesetzten Polen „Lob = ich bin gut, Tadel = ich bin schlecht“ immer mit dabei. Selbst wenn ich alleine bin und im Außen mal Ruhe einkehrt – in mir ist die Konditionierung aktiv und so sind alle meine Handlungen motiviert vom Urteil: getrieben vom starken Wunsch gut zu sein, versuche ich sogar allein Dinge zu tun bzw. nicht zu tun, um mich nicht selbst schlecht beurteilen zu müssen – bin mein eigener Aufseher im Verstandesknast. Ich mache zum Beispiel Sport, damit ich nicht faul bin, meditiere, um mich zu entspannen und etwas für mein spirituelles Image zu tun, male, um etwas Schönes zu erschaffen und mich innerlich damit zu rühmen. Doch es ist alles auf ein Ziel ausgerichtet und somit unfrei, nicht wirklich erfüllend. Alles ist lediglich ein weiterer Punkt auf meiner To-Do-Liste, die ich täglich immer wieder neu abhake. Aber hey, ich gehe jetzt doch auch noch zur Ernährungsberatung, um rundum fit zu sein, das ist doch neu, innovativ?! Das einzig Neue daran ist der neue Bleistift, den ich irgendwann brauche, sobald der Alte vom ganzen Abhakwahnsinn zusammengeschrumpft ist.

Lob, das süße Gift
Die auf den ersten Blick etwas schwierigere Frage ist, wer ist jemals wirklich empfangsbereit für Lob und gerät nicht kurze Zeit später in Panik? Der Duden schlägt interessanterweise für Kritik auch das Synonym Auszeichnung, Würdigung vor, aber erst an 5. Stelle versteht sich – wir achten doch alle mehr auf einen versteckten Tadel und nehmen ein Lob oft nur verspätet oder auf Nachdruck an. Die Rangfolge im Duden ist lediglich eine Entsprechung dessen.

„Ach siehst du heute wieder toll aus/ schlanke Figur/ schicker Haarschnitt/ Megaausstrahlung…“ Klingt erstmal ganz gut, doch prompt antwortet der Verstand mit Angst, diesen Zustand halten zu müssen, denn sonst kommt der Tadel und mit ihm die vermeintliche Bedrohung meines Images.
Kann ich wirklich dauerhaft ein Lob über mein Äußeres, das dem unausweichlichen Gesetz der Vergänglichkeit unterliegt, innig genießen, ohne der Angst eines Tages in einem greisen, faltigen Körper festzusitzen? Ist es möglich ein Lob über meinen ästhetischen Geschmack, Fähigkeiten, Wissen etc. aufzunehmen ohne mich damit dann zu identifizieren, es zu benutzen für mein grandioses Selbstbild? Auch wenn ich glaube Lob für das, was ich tue, wirklich annehmen zu können: unterschwellig ist die Angst da, meine Fähigkeit eines Tages zu verlieren. Und was dann? Wer bin ich dann schon ohne meinem angeborenen oder erlernten Können? Spätestens durch Krankheit, Behinderung, äußerem Zerfall oder angesichts des nahenden Todes steigern sich die innere Unruhe, der Frust, die Unzufriedenheit, die Todesangst und evtl. gar der Hass auf die Gesellschaft und mich selbst.

Lebenslange Haft?
Das ist es also, das Leben denkst du, mehr gibt es nicht? Na zumindest denken das die meisten! Von klein auf lerne ich durch meine Eltern was ich tun muss, um ein Lächeln, eine Streicheleinheit, mein Lieblingsessen oder eine andere Belohnung zu bekommen. Und Mama und Papa wussten das nicht anders, denn auch sie wurden von ihren Eltern nach deren Bilde erzogen, welches immer unausweichlich von den jeweiligen Werten des aktuellen Zeitgeistes geprägt ist.
Auch mein Kind habe ich gelobt und belohnt, getadelt und bestraft, um es scheinbar für das Leben da draußen, die fiese Welt zu rüsten.

Kein Entrinnen also?
Das könnte man meinen, da wir nun mal auf einem Planeten mit zwei Polen leben, was sich auch in unserem polarisierenden Verstand widerspiegelt. Scheinbar klug findet dieser zu jedem Phänomen das Gegenteil. Überall Paare, Dualsysteme, Entsprechungen auf der anderen Seite, schwer überwindbare binäre Geschlechterrollen… aus eins mach zwei in der sexuellen Paarung, denn wer alleine ist, dem fehlt wohl was.

Schmerzlich wird mir klar, dass ich das, was mein Sohn wirklich ist, was unter seinem gelehrten/ gelerntem Verhalten schlummert, verkenne oder sogar nicht einmal kenne?! Habe ich ihn vor lauter Dressur zu einem unsicheren, angepassten Menschen erzogen, der sich angestrengt und bedürftig durch die bedrohliche See seines Lebens manövriert wie ich? Will ich ihm tatsächlich einen Kalender mit seinen ersten eigenen To-Do-Listen aufdrücken?
Ich erschrecke. Nein. Das will ich nicht!

Das Mysterium der dritten Art
Der Schreck weckt mich auf, macht mich empfangsbereit. Ich erwache aus dem Albtraum von Gut und Böse, als ich im Rahmen des Umkehrkurses mit anderen Coaches der Geistreich-Bewusstsseinsschule in einem Kreis sitze und zuhöre: Ellen, die Frau neben mir, bekommt die Aufgabe zu jeder*/jedem* zu sagen, was sie an Tätigkeiten wahrgenommen hat, ohne dies zu werten. So nahm sie wahr, dass jemand geputzt hat, ein anderer Jemand saß da, und schließlich sagt sie zu mir: „ich habe gesehen, dass du gekocht hast“. Mein Verstand verstummt. Ihr Blick ist geistig klar, die Worte schlicht, einfach. Diese Klarheit trifft sofort mein Herz, berührt das Wahre in mir, die Muskulatur lässt los, entspannt. Ich bin gesehen. Und das ist genug, ich bin genug, ich BIN wertvoll. Genauso wertvoll wie alle anderen. Durch dieses nicht emotional durch Wertung gefärbte, schlichte Aussprechen dessen, was wahrgenommen wird, zeigt sich, dass alles gleichwertig ist. Nichts ist besser oder schlechter, mangelhaft oder besonderer. Der Schmerz durch die dipolare Zerrissenheit weicht der sachlichen Neutralität der Wirklichkeit, die keine Bewertung kennt. Ich bemerke, wie ich in diesem Erkennen mühelos aufrecht dasitze. Das Mysterium der dritten Art, der Senkrechten aus der dualen Waagrechten erschließt sich mir. Wie heilsam. Ich staune. Da ist kein Hunger mehr nach Anerkennung, kein Drang nach blindem Aktionismus, keine Angst vor Ablehnung. Das was in jedem Moment ist, reicht.

Dieses Bewusstsein nehme ich mit nach Hause, weil ich nun weiß, dass ich es BIN. Wie sollte es anders sein? Der innige Wunsch erscheint, mir und anderen nichts mehr als die Wahrheit zu sagen, meinen Sohn ohne Filter zu betrachten, wirklich wertzuschätzen, was er tut, was er ist.

 

Autor: Juliane Kammerl

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