Konflikt, Harmoniesucht und Wahrheit der Neun im Enneagramm

Störung und falsche Harmonie
Konflikte sind für mich so etwas wie Ruhestörungen. Da ich es friedlich-harmonisch brauche, weiche ich Unstimmigkeiten gerne aus. Ärger und Wut kann ich nicht wirklich zulassen und vermeide es möglichst, mich damit auseinanderzusetzen. Entweder werde ich still oder ich versuche die Harmonie im Außen wiederherzustellen. Weil ich es am liebsten allen recht machen will und für jede Position Verständnis habe, funktioniert das nicht. Also blende ich den Konflikt aus und wende mich ab. Im Unwissen, dass ich diese Gefühle in mir trage, sehe ich die Wut und den Ärger bei den Personen draußen. In der Harmonie-Sucht bleibe ich weiterhin unbewusst für den Schmerz der Wut in mir. Ich halte ihn flach und kompensiere durch freundliches Benehmen, Nettsein, Zu-Munde-reden, zuvorkommende Hilfsbereitschaft, mich nach den Wünschen der anderen ausrichtend. Ich selbst komme nicht mehr vor, bin weg, habe mich ausgeblendet, bin ein Phantom.

Vorgetäuschte Leichtigkeit
Hier präsentiere ich mich als der immer gut gelaunte Sunnyboy, als Everybody’s Darling, dem es wunderbar geht, der kein Problem hat und die Ruhe selbst ist. Durch die Verleugnung meiner Wut, die auf Selbstablehnung, ja Selbsthass gründet, fühle ich mich klein und unbedeutend. Überzeugt wertlos und falsch zu sein, möchte ich von niemandem in diesem Mangel an Selbstwertgefühl erkannt werden. In solchen Zuständen beginne ich dann zu pfeifen oder zu singen, was in den meisten Fällen ein Indiz für ein von mir veranstaltetes Versteckspiel ist. Freunde, die das Spiel durchschauten, machten mich darauf aufmerksam, wo ich selbst blind dafür war, dass ich einer Strategie folge. Eine weitere Möglichkeit, meinen Mangel an Selbstwert zu vertuschen, ist der räumliche Rückzug: „Ich brauche Zeit für mich/ meinen Raum.“

Das Krümelmonster und der Philosoph
Da ich diesen Schmerz nicht wirklich wahrhaben will, ihn also weiterhin unterdrücke, kompensiere ich mit Süßigkeiten und Keksen aller Art. Ich gehe einkaufen oder beschenke mich gewissermaßen durch Online-Bestellungen. Das tue ich in dem Versuch, den ausgeblendeten Selbstwert von außen zuzuführen. Und weil das Bewusstsein für die Wahrheit in mir schläft, lese ich spirituelle Texte, um wenigstens meinen Verstand mit der Wahrheit zu füttern. Hier zeigt sich meine Faulheit, Bequemlichkeit in Bezug auf das Erkennen, dass Wut ein Wecker für eine Lüge ist. Ich ignoriere diesen Wecker und bleibe in einer fälschlicherweise angenommenen Bewertung meines Wesens. Ich bin bequem und verantwortungslos in Bezug auf eine einfache, jedem Menschen zugängliche Wahrheit – dass Schmerz ein dringliches Signal ist, den Verstand zu klären und mein wahres, liebendes Sein zu kontaktieren. In der Weisheitslehre des Enneagramms wird die ins Unbewusste verschobene Wut und die Trägheit/ Faulheit in Bezug auf das Erkennen, worum es eigentlich geht, als vornehmliche Tendenz dem Typus der Neun zugeschrieben.

Selbstbewusstsein durch Anerkennung der Spiegelung
Als ich von dem Umstand (Gesetz) der Spiegelung erfahre, erwache ich in der Aufrechten des Selbstbewusstseins. Ich kann sehen, dass es meine eigenen Projektionen sind, die ich draußen als vermeintlich getrennt von mir wahrnehme und wie ich dadurch eine Welt erschaffe. Die Projektionen zu mir umzukehren, um mich selbst darin zu erkennen, ist der Weg aus der Trennung. Was ich draußen als Störung interpretiere, finde ich als Unstimmigkeit in mir. Den fehlgeleiteten und erfolglosen Ansatz, die Störung dort zu verändern, wo sie für mich sichtbar wird – außerhalb von mir – lasse ich nun. Ich bleibe dort nicht stecken, sondern nehme es zu mir zurück. Ich blende durch die Umkehr intelligent ein, was wirklich wahr ist.

Die Wahrheit
Wirklich wahr ist, dass ich wertvoll, richtig, gut und gleichwertig mit anderen Wesen bin. In dieser Erkenntnis bin ich gelöst, leicht, gelassen und ruhig. Ich komme mit der liebevollen Einfachheit des Seins in Kontakt, bin in mir selbst liebevoll gehalten. Das ist ein Seins-Zustand, der kein Gegenteil kennt. Ich bin in Kontakt mit der Wirklichkeit. Kommt ein bewertender Gedanke zurück, blende ich die Wahrheit erneut ein und betrachte den Gedanken aus der umgekehrten Perspektive. Wo ist es wahrer? Wo ist es liebevoller? Dort, wo es friedlicher in mir ist, ist die Wahrheit. Das ist ein Ur-Gesetz. Ohne die Bewertung im Verstand ist das, was ich vorher als Störung, Konflikt bewertet habe, die Berührung der Liebe. Es ist Klang, Musik. Wenn die Sinne sich öffnen, höre ich, was wirklich ist, und nicht was ich denke, was ist.

 

Autor: Uwe Rapp

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