Johanna oder Heilung durch bewusstes Sterben

Das Gleichnis – Jeanne d’Arc
Im Sommer 2021 kommt meine Mutter Johanna im Willen zur inneren Einkehr auf den Umkehrplatz in Seddiner See bei Potsdam. Hier, in der klösterlichen Stille eines großen Waldgrundstückes, begleitet die Mystikerin Mayakarina Teilnehmer der Sangha auf ihrem Weg nach innen. Wie es sich hier immer wieder herausstellt, ist das der Anfang eines sehr berührenden Sterbe-Prozesses der schmerzlichen Ego-Ich-Struktur, an dem ich teilnehme. Im Moment der Ankunft von Johanna ist sie nicht mehr Mutter, sie ist Spiegel. ICH BIN DAS.   

Mayakarina sieht sofort in dem zarten und mutigen Wesen „Johanna“ das mythologische Wesen der Johanna von Orleans (Jeanne d’Arc), die die junge Schauspielerin Leelee Sobieski im gleichnamigen Film in faszinierender authentischer Weise spielt. Es ist der Weg der Unschuld, auf dem sie um die Wahrheit ringt. Es ist eine frappierende Unschuld, die alle festgefahrenen weltlichen und religiösen Konzepte infrage stellt. Und in der Tat ist das der Weg der Umkehr, auf dem Heilung und Erlösung passiert. So auch bei Johanna hier und jetzt. Mitten in einem durch die Diagnose „Krebs“ passierenden Sterbeprozess geschieht Heilung, bevor der Körper stirbt. Nicht nur ich, die ganze dem Sterbeprozess beiwohnende Familie ist tief berührt von dem Wunder, das vor unseren Augen geschieht.

Schmerz ist ein Signal
Die Diagnose „Krebs“ ist erst einmal ein Schock und löst Angstgedanken vor Schmerzen und vor dem Tod aus. Hier am Umkehrplatz wird der Schmerz als ein Signal anerkannt, für bisher nicht bewusste Angstgedanken, gedankliche Überzeugungen, die Schmerz und Leid erzeugen. Der Schmerz ist ein Signal, das mich an die Umkehr erinnert. Betrachte ich den schmerzerzeugenden Angstgedanken aus der umgekehrten Perspektive, erscheint das, was ich wirklich bin. In der Umkehr ist es still und friedlich. Frieden. Johanna vertraut sich diesem Prozess an und ist bereit, Angstgedanken, die Schmerz und Leid erzeugen, zu hinterfragen. Es ist ein Prozess, das Leben immer jetzt anzunehmen, so wie es sich gerade zeigt, auch wenn Krankheit und Schmerzen da sind. Es ist ein heilsamer Prozess, der Wahrheit in sich selbst zuzuhören und dabei immer tiefer zu erkennen, was ich wirklich in Wahrheit bin.

Ich bin nicht der Körper
Ich bin Liebe
Weites Bewusstsein
Vollkommenheit
Dankbarkeit
Unschuld
Geborgenheit
und Freiheit.

Das wahre Leben ist Glückseligkeit
Die tägliche Praxis, die innere Einkehr in die Erinnerung an das, was ich in Wahrheit bin, bekommt ein Leben. Während dieser heiligen Erinnerung erlebt Johanna trotz Schmerzen, dass sie im jetzigen Moment ankommt. Und in diesem „Jetzt“ berichtet sie sogar von Momenten der Glückseligkeit. Das Erleben, dass diese Glückseligkeit wirklich in ihr ist, dass das nichts von außen ist, erlebt sie als tiefe Berührung. Und es gibt Momente, in denen sie wunderschöne, lichtvolle Farben sieht. Glückseligkeit. 

Für mich ist es sehr berührend, in ihr diese Präsenz des Friedens zu sehen. Es ist Schönheit. Es gibt nichts zu tun. Alles ist angenommen, wie es ist. In diesem Moment ist auch mir klar, dass dieser Frieden nie abwesend war. Ich habe ihn nur nicht wahrgenommen. Während der körperliche Zustand von Johanna schwächer wird, ihre Konzentration auf Worte nachlässt, verkürzt sich auch das Sprechen (die Worte verlieren sich). Hin und wieder tauchen Bruchstücke von gewohnten Alltags-Gedankenmustern bei ihr auf. Die Äußerungen spielen sich ab, wie kurze Filmszenen, die nicht zu Ende gespielt werden, denn sie verlieren im selben Moment schon ihre Bedeutung. Johanna bestätigt meinen Eindruck. Es ist die Bedeutungslosigkeit von sich wichtig machenden Gedanken, die nicht einmal mehr von sich selbst wichtig genommen werden. Das Einverstandensein mit dem Leben und dem Sterben eröffnet eine tiefe Lebendigkeit und ist gleichzeitig die Heimkehr in den Frieden. Ich BIN DAS. All das mit ihr ausdrücken und austauschen zu können, erfüllt mich mit Dankbarkeit. Es sind Worte, die das Lebendige, Liebevolle und Friedliche enthalten. 

Das Geschenk des Lebens im gegenwärtigen Augenblick
Menschen, die sie begleiten oder besuchen, fühlen sich durch den Kontakt beschenkt. Die Ausstrahlung des Im-Frieden-Seins mit körperlichen Herausforderungen und Sterben einerseits und die tiefe Dankbarkeit für alles Erleben im Jetzt andererseits ist erfüllend und berührend. Da ist so viel staunende Freude und Dankbarkeit – an einer Blume, an der Weite des Himmels oder am kalten Wasser auf der Haut. Immer jetzt. Das Leben wird erlebt mit allen Facetten und gleichzeitig ist die tiefe Gewissheit da, ewiges Leben, Frieden zu sein. 

Wenn wieder Schmerzen auftauchen, erkennt Johanna diese wieder als Schmerz-Signal an, geht in die innere Einkehr und erlebt dabei die Geschenke des Lebens im Äußeren und Inneren. Sei es, dass plötzlich jemand unerwartet vorbeikommt und ihr die Schmerzen etwas lindern kann, sei es, dass sie innerlich in den Frieden zurückfindet. All das ruft ein Staunen hervor, dass das Leben wie ein Wunder von selbst geschieht. Dieses Erleben, das immer alles da ist, was gerade gebraucht wird, erfüllt sie mit Dankbarkeit und staunender Präsenz. Es ist ein Bewegtsein, Beschenktsein, Geborgensein, was durch tiefe Hingabe und Annahme von selbst geschieht. Sie hat sich wohl immer gewünscht, am Ende ihres Lebens dankbar zu sein und nun ist sie sehr glücklich, dass sie diese Dankbarkeit tatsächlich erlebt. 

Der Übergang: Hingabe an Leben und Tod 
Johanna beschreibt, dass sie bemerkt, das etwas von ganz allein passiert, was sie einerseits ins Nichts führt und sie andererseits Glückseligkeit ist, was nicht beschreibbar ist. Alles erlebt sie nun als Geschenk. Es ist das Erleben, das ich nicht der Körper bin. Nichts ist falsch, je falsch gewesen. Es ist glückliches, unschuldiges, freudiges Sein, das durch Demut und Hingabe gewonnen ist. Ich BIN das. Es ist der Himmel, der jetzt schon auf der Erde ist. In der Begleitung hat es durch das Loslassen, das geschieht, fast etwas Unpersönliches, und doch gibt es nichts Näheres, mich in Johanna als das zu erkennen, was ich selbst bin. Das ICH löst sich auf, ist nur eine Geschichte und die Weite des Friedens ist schon da, was in ihr, in mir und in dir dasselbe ist. Es gibt nichts „Näheres“. Die Zeit verliert ihre Bedeutung. Es ist so, als wäre ich aus der Zeit gefallen. Der Moment erinnert still an das Wesentliche, an das Leben, den Frieden, die Weite, die Freude – an DAS, was ich bin. Und es geschehen immer erkennbarer die Wechsel von Hiersein und Jenseitssein. Es fallen Worte wie: „Ich bin alles“. Es ist ein Staunen da, was dabei erlebt wird. „Was ich alles bin.“ In der absoluten Hingabe an das, was geschehen soll, geschieht schrittweise der Rückzug aus dem körperlichen Leben. Sie scheint in den letzten Stunden schon woanders zu sein. ES atmet. Ich beginne, ein Mantra zu singen und erlebe einen sehr berührenden Moment, denn sie summt die Töne plötzlich mit mir gemeinsam. Sie ist schon auf der Reise und gleichzeitig ist sie hier in dieser friedlichen Melodie. Ich selbst bin im Einklang mit dem Leben, dem Sterben, was das Leben ist. Es ist ihre friedliche Präsenz, die eingeht in das ewige Leben und die gleichermaßen hier präsent ist. 

Friedliche Präsenz
Es ist eine stille, friedliche Präsenz in mir, sie ist gegenwärtig und sie umgibt mich – und sie bleibt. Es ist eine tiefe Geborgenheit. Nichts kann verloren gehen, denn ich BIN das. Johannas bewusster Sterbeprozess hat mir gezeigt, dass diese friedliche Präsenz immer da ist. Sie ist unabhängig von äußeren Bedingungen und ich kann sie in stiller Einkehr in mir selbst aufsuchen. Es ist die Heimkehr zu der lebendigen friedlichen Präsenz, die ich bin. 

Der Tag des Übergangs war ein herrlicher Frühlingstag. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, die ersten Blumen blühten. Die friedliche Präsenz in all dem und in mir zu erkennen, ist tröstend und erfüllend zugleich. Nichts geht verloren, alles ist da, in mir, um mich herum. Liebendes Lebendiges Sein – jetzt. 

Im Nachhinein sehe ich, alles war ein vollkommenes Zusammenspiel, das geführt erschien, in den vielen kleinen Begebenheiten, was unglaublich war. Wunder – volles – Leben. Der Einklang mit dem Sterben enthält nichts Bedrohliches. Wo EinsSein ist, ist keine Angst. In Johannas Lieblingsfilm „Wie im Himmel“ heißt es in einer Szene: „Als meine Eltern gestorben sind, habe ich erkannt, dass es den Tod gar nicht gibt.“ Nun kann ich dasselbe sagen.

Heilig-Sprechung der Jeanne d´Arc
Johanna spiegelt uns durch das Bewusstsein der Heimkehr Heiligkeit. Wie Jeanne d´Arc empfängt sie den Tod mit einem offenen Herzen. Die Heiligsprechung von Jeanne d´Arc nach ihrem Tod, das tun Menschen, die die Heiligkeit des Kampfes um die Wahrheit und das Wissen um die Unsterblichkeit in sich tragen. In der Spiegelung offenbart sich das Wunder des Lebens in jedem Selbst. Es ist ein heiliger Moment, die Wahrheit ewigen Lebens, zu erkennen und im BewusstSein das Wunder, das das Leben ist, zu erfahren.

In Dankbarkeit,
Daniela.

Autor: Daniela Schuchardt
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