Die Furcht vor dem Leben
Soweit ich mich in meinem Leben zurückerinnern kann, war ich immer von einer unterschwelligen Angst begleitet, von der Angst, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Besonders galt meine Angst, dass mir Gewalt widerfahren könnte, obwohl ich diese nie am eigenen Leib erfahren habe. Jedoch hatte ich in meiner Kindheit und Jugend einige Gewaltmomente gesehen und erzählt bekommen und das war schlimm genug. Ich war schon als Kind sehr aufmerksam, mit der Intention Gefahren frühzeitig zu erkennen, um mich dann gegebenenfalls rechtzeitig in Sicherheit bringen zu können. Dieses Angstdenken ist bis heute aktiv und ich beziehe es inzwischen nicht mehr nur auf mich, sondern auch auf meine Kinder. „Mir kann etwas Schlimmes passieren.“ hängt bis heute als Gedankenüber-zeugung wie ein Damokles-Schwert über meinem Leben. Was könnte mir also Schlimmes passieren? Ich könnte den Job und dadurch meine finanzielle Existenz verlieren, die Kinder könnten schwer erkranken, sie könnten Gefahren ausgesetzt sein, Leid erleben. Genauer betrachtet geht es um die tiefsitzende Angst vor dem Tod. Ich oder die Kinder könnten sterben. Diese Angstgedanken sind mir nicht dauerhaft bewusst, sie tauchen nur sporadisch, dann aber plötzlich durch konkrete Anlässe auf, z.B. wie kürzlich durch die Nebenwirkung eines Medikamentes. Wenn ich es genau betrachte, sind diese Angstgedanken dauerhaft unterschwellig aktiv und das Leben wird dabei zu einem Spießrutenlauf. Jede mögliche Gefahr muss abgewogen und vermieden werden, obwohl ich vorher gar nichts über Lebenssituationen und möglichen Gefahren wissen kann. Ich bemerke in dieser gewohnten Lebenseinstellung nicht, wie stressvoll mein Leben ist, weil ich mich dauerhaft um diese scheinbare Sicherheit kümmere. Ich bin damit beschäftigt, alles zu tun, damit ich und die Kinder nicht sterben. Ich versuche, mich mit Wissen abzusichern und die Kinder zu einem bestimmten Verhalten zu motivieren, damit ihnen bloß nichts passiert. Die Kinder dürfen nicht sterben oder leiden, weil ich fürchte, dass ich diesen Schmerz nicht aushalten kann. Die Angst davor, allein zurück zu bleiben, fühlt sich an wie das Ende. Wenn ich in diesem Angstdenken bin, nehme ich mich und die Kinder gar nicht mehr wahr. Es dreht sich in meinen Angst-Gedanken nur um mich selbst. Es ist, als wäre ich gar nicht lebendig. In diesem Angstzustand fühlt es sich so an, als wäre ich eigentlich schon tot.
Mir ist nun klar, dass mich die tiefsitzende Angst vor Schmerz und Tod unterschwellig steuert. Die Furcht zu sterben oder andere durch den Tod zu verlieren, lässt mich gar nicht wirklich leben. Es ist, als würde ich automatisiert um mein Leben rennen. Dabei bin ich nicht im Kontakt zu mir selbst und kann auch nicht im Kontakt zu anderen sein. Diese Schreckens-Überzeugung lebe ich den Kindern vor, die diese als „Lebenskonzept“ übernehmen. Das Bewusstwerden dieser Lebenseinstellung erschreckt mich zutiefst und ist sehr schmerzhaft, weil mir nun deutlich ist, dass mein von Todesangst getriebenes Denken kein wirkliches Leben ist, weil es so nicht lebendig und erfüllt sein kann. Das zu erkennen, lässt mich anhalten in meinem Denken und gibt mir die Möglichkeit, eine neue Entscheidung zu treffen. Möchte ich so weiterleben? Möchte ich in dieser Furcht leben, wenn ich darin gar nicht wirklich lebe?
Aus der Furcht vor dem Leben wird Ehrfurcht vor dem Leben und dem Tod
Die Bewusstwerdung dieses Denkens und der dadurch ausgelöste Schock hält die Zeit plötzlich an. Aus einer Stille heraus kann ich die Schönheit des Lebens völlig neu sehen. Das Leben ist in jedem Moment ein Geschenk des Erlebens, reine vollkommene Lebendigkeit. Es gibt nichts mehr zu tun und es beginnt eine viel tiefere Wahrnehmung, als die, die ich bisher kannte. Es sind die kleinen Momente, die mich im Herzen berühren und erfreuen. Der Wind, der die Zweige und Blätter erzittern lässt, die Blume in ihrer zauberhaften Schönheit, ein Wasserplätschern, der Tautropfen an einem Grashalm, der flatternde Vogel erfreuen mich plötzlich zutiefst. Es fließen Tränen der Freude, die erlösend sind, diese neu erkannte Schönheit des Lebens erfahren zu dürfen. Ehrfürchtig nehme ich alles Leben um mich herum wahr, dessen Zauber vom Werden und Vergehen, einem äußerlich erscheinenden Lebenszyklus mit Anfang und Ende unterliegt, der jedoch in seiner Essenz ewig ist. In diesem Stille-Zustand läuft das Leben wie ein Film in all seiner Schönheit und Vollkommenheit vor mir ab. Ich bin lebendig, ich bin Leben. In diesem Zustand verliert der Tod jeglichen Schrecken. Leben und Tod sind gleichwertig, folgen einem Rhythmus und dieser ist immer richtig, geschieht so, wie es sein soll. Ich bin im Vertrauen und im wahren Kontakt zu dem Leben in mir. In diesem Augenblick ist das Leben reine Freude – zeitlos. Auch die Kinder nehme ich nun in ihrer Lebendigkeit wahr. Ich kann sehen, dass sie ihr Leben leben und dass ihr Leben, wie jedes Leben, seinen eigenen wunderbaren Rhythmus hat. Was sie erleben, gehört ihrem Lebensweg an und sie können die Schönheit des Lebens erfahren, in ihrem ganz eigenen Tempo. In diesem Zustand bin ich still. Ich vertraue mich diesem Lebensrhythmus, dieser Lebensenergie, dieser Lebenskraft an und bin darin gehalten. Ich kann sehen, dass Leben ewig ist. Ich brauche nichts zu tun. Anfang und Ende ist eine körperliche Erscheinung, der Ausdruck einer „Ich“-Identifikation. Die Haft am Ich-Gedanken ist die unbewusste Geburt (m)eines Körpers. Es ist der Schmerzkörper, der ich bin. Der Körper soll und muss wieder sterben. Im Zwischenraum zwischen Geburt und Tod hat jeder Mensch die Möglichkeit im Ewigkeits-Bewusstsein zu erwachen. Das geschieht, durch die Anerkennung der Gleichwertigkeit von Leben und Tod. Was für eine wunderschöne Erkenntnis: Das wahre Leben, das ich bin, ist ewig.
Autor: Daniela Schuchardt
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