Zuerst du und dann ich
Ist es wahr, dass es mich und den Anderen zur Versöhnung braucht, mit der Bedingung, dass er seine Schuld anerkennt und zu sühnen bereit ist, damit ich verzeihen und vergeben kann? Das würde bedeuten, die Versöhnung ist abhängig von der Einsicht und dem Verhalten des anderen. Er muss seine Schuld bekennen, sonst bekommt er keine Gnade. In dieser fordernden Haltung verlange ich etwas vom anderen, um mit ihm versöhnt zu sein. Kann so wahre Versöhnung geschehen?
Versöhntsein oder Zufriedensein
Zufriedenheit ist immer an Bedingungen geknüpft. Sind diese nicht oder nur teilweise erfüllt, bin ich unzufrieden. Ich bin abhängig von Umständen, die sich erst in meinem Sinne verändern müssen. Für den Frieden ‚zwischen‘ zwei (oder mehreren) Menschen oder Parteien sind äußere Umstände entscheidend. Doch hält er nur so lange an, wie die dazu ausgehandelten Abmachungen oder Verträge erfüllt sind und eingehalten werden. Der Frieden ‚dazwischen‘ ist unsicher, die Harmonie ist unbeständig, da Verträge und Absprachen sich wieder ändern können und oft auch nicht eingehalten werden. Der Frieden zwischen mir und einem anderen ist somit eine Illusion. Wie kann ich in eine Versöhnung, ein in Frieden Versöhntsein finden, wenn ich keinen Einfluss auf die äusseren Bedingungen habe?
Im Schmerz der Vergessenheit
Der Wunsch nach Versöhnung mit jemanden, indem sich der andere ändert, ist in seiner Bedürftigkeit und der Unsicherheit, ob es bleibend gelingt, sehr schmerzlich. Ich bin angespannt und stehe unter Druck. Ist der Schmerz nicht als Wecker anerkannt, beschuldige ich mich oder den anderen für die fehlende Versöhnung. Um den Schmerz nicht zu fühlen, halte ich ihn mit scheinbar aufwertenden Ablenkungen wie z.B. leckerem Essen, unterhaltenden Filmen, Musik hören, mit Freunden sein usw. unten, bis er sich wieder durch eine neue Situation meldet. Wenn ich erkenne: es ist immer ein Gedanke, der das schmerzliche Gefühl im Gepäck hat, kann ich hinterfragen, ob es wahr ist, was ich da denke. Das schmerzliche Gefühl ist der Hinweis, nach innen zu schauen. Wo kann ich das nach außen Projizierte in mir finden, wo bin ich das? In der Vergessenheit des Gedankens „Ich brauche dich zur Versöhnung“ liegt die Umkehr zu mir schon parat: „Ich brauche (nur) mich zur Versöhnung, zum Versöhntsein.“Wenn klar ist, dass nicht jemand da draußen mir etwas antut oder vorbehält, sondern ich es bin, der es bereits vorher schon tut, ist die Umkehr zur Selbstverantwortung vollzogen. Es kommt Licht ins Dunkel. Ich übernehme die Verantwortung für meine Projektion und erkenne den von mir als schuldig benannten Verletzer als das nach aussen projizierte Ergebnis fehlender Selbsterkenntnis an und finde in der Umkehr inneren Frieden, Versöhntsein.
Der unbewusste Will-i in mir
Wenn ich denke, „mein Chef sollte in einem anderen Ton mit mir reden“, oder „ich brauche Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Anerkennung von meiner Partnerin“ oder „das Leben sollte anders sein, als es ist“, sind das ‚Ich will‘-Forderungen an das Leben, so, wie ich es gerne hätte. Eigenwillig diktiere ich dem Leben, wie es sein soll und verachte damit, wie es sich gerade zeigt. Hier bin ich weit entfernt davon, versöhnt zu sein, da ich mich gegen die Wirklichkeit stemme, in dem Verlangen, meine Bedürfnisse abgesichert zu bekommen. Es ist nicht das Leben, wie es sich abspielt, was mich unzufrieden macht, sondern wie ich es bewertend bedenke und anders haben will. Der ungeprüfte Gedanke ist es, der als Echo Unfrieden in mir erzeugt. Das zu erkennen ist groß, wenn ich bereit bin, die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Ich bin Das
Was ich also gedanklich heraus projiziere auf den Chef, die Partnerin oder auf das Leben spiegelt mir in der Umkehr, welche Gedankenurteile ich über mich selbst habe. Es ist in mir und hat dort seinen Ursprung. Die Projektion, der bewertende Fingerzeig nach draußen, ist erstmal richtig. Doch nicht als feststehende Urteile, sondern damit ich mich im Spiegel selbst als das erkennen kann. Ich übernehme Verantwortung für mein Denken und kann so den Kontakt zu dem vermeintlich Feindlichen zulassen, denn jetzt ist klar, es ist lediglich ein Spiegel von mir – ich bin das. Dem Wunsch nach sanfter Behandlung durch den Chef liegt die unsanfte Behandlung, die ich mir selbst zukommen lasse, zugrunde, z.B. in dem Gedanken „Ich bin falsch, wertlos, nicht gut genug.“ So tönt es unbewusst in mir. Meine Interpretation des Tones, in dem der Chef zu mir spricht, spiegelt mir das selbstzerstörerische, ‚laute‘ Denken über mich selbst. Ist das nicht erkannt, bleibe ich beschuldigend an der Person Chef hängen und bewerte ihn als falsch, ungerecht usw. Oder der kindlich fordernde Wunsch nach Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Anerkennung durch die Partnerin (durch andere Personen austauschbar) spiegelt mir die Fehlstelle, selbst nicht die Wertschätzung für mein Dasein, für das Leben aufzubringen.
Der Bezug zur Wahrheit
Auch wenn nun klar ist, dass das Außen mir lediglich zurückspiegelt, was ich über mich selbst denkend aussende, befreit es mich nicht von dem Schmerz einer möglichen Selbstbeschuldigung, wie „Ich bin falsch, Ich bin wertlos, Ich bin nicht gut genug“. Es sind schmerzverursachende Gedanken, die sich selbstzerstörerisch in mir auswirken, wenn ich ihnen Glauben schenke. Doch jedem Gedanken ist auch die Umkehrung und somit die Auflösung vom Schmerz mitgegeben. Im Aussprechen der Umkehrung „Ich bin richtig, wertvoll und gut“, und näher noch „Das Leben, das ich bin, ist richtig, wertvoll und gut“ gehe ich in Resonanz mit dem wahren Wesen, dass ich bin, wo es ruhig und friedlich ist und eine freiatmende Leichtigkeit da ist. Mit dem Einblenden der Umkehr bin ich mit meiner Aufmerksamkeit auf die Wahrheit bezogen, dort wo absolute Richtigkeit und Gutsein ist. Der mich selbst abwertende Gedanke bekommt keine Energie mehr und ist damit aufgelöst. In diesem neuen Bewusstsein ist klar: Schuld hat es nie gegeben, denn der Schuld-Gedanke selbst ist das Missverständnis.
Die neue Sicht
In dieser Erkenntnis geschieht Verwandlung und Auflösung von Härte, Verschlossenheit, Stolz, Besserwisserei, Sturheit, Eitelkeit, Neid und Überheblichkeit. Wo ich vorher noch ablehnend und verschlossen war, geschieht aus dieser neuen Sicht heraus die Annahme und Hingabe an das Leben, wie es hier und jetzt ist. Ich wertschätze die Wirklichkeit, so wie sie ist in ihrer Gleichwertigkeit und überbewerte nicht länger das, was mir gefällt oder nicht gefällt. Ohne den Eigenwillen „Ich will es anders haben, als es ist“, bin ich im Einklang mit dem Leben, wie es sich gerade zeigt. Die Ahnung wird wach, Leben in der Ganzheit all seiner Aspekte selbst zu sein, und nicht ein durch den Eigenwillen eingeschränktes, separiert-kleingeistiges, vom Leben getrenntes Wesen.
Die Umkehr – Leichtigkeit des Seins
Ausgehend von dem die Trennung erzeugenden Ur-Gedanken ‚Ich‘ und der damit gekoppelten Bewertung als etwas, was nicht ausreicht, weil das „Ich“ in seiner Personifizierung zu klein, zu eng ist, um das Ganze zu sein, ist es der Urschmerz des Menschen, sich nur noch als ein Fragment wahrzunehmen, und er leidet darunter. Die ungeprüfte Überzeugung ein Ich zu sein, erschafft mich eng und schwer als ein scheinbarer Körper. Im Einblenden der Wahrheit ist es leicht und weit; ohne ‚ich‘ im m-ich bleibt nur ein sanftes ‚mmm‘ übrig. Im Sprechen der Umkehr löst sich das Ich auf und Liebe nimmt resonierend den Raum ein. Es ist Selbst-Liebe. Die Klarheit, dass mir niemand etwas schuldig ist, weil die Schuld in Bezug auf die Wahrheit durch die Umkehr in mir selbst getilgt ist, ist Versöhntsein, ist Liebesein. ICH BIN, – versöhnt mit Allem. Der Wunsch nach einem Frieden ‚zwischen‘ mir und dir – zwischen zwei Polen – ist als eine Illusion erkannt. Die Suche nach Frieden durch Versöhnung hört auf. Im Bewusstsein der Vollkommenheit verkörpert sich durch mich die Präsenz friedvollen Seins als urgründige Liebe. Sie ist unverursacht und bedingungslos schon immer da gewesen.
Autor: Uwe Rapp
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